An(ge)dacht

An(ge)dacht: Normalität

von Jonas Schöler

„Das ist doch nicht normal!“ Diesen oder einen ähnlichen Satz hat bestimmt jeder von uns schon mal gehört oder selber gesagt. Meistens in einem negativen Kontext, begleitet von einem verständnislosen Kopfschütteln.

Offensichtlich wird Normalität als erstrebenswerter Zustand angesehen, den wir mehr oder weniger entschieden von uns und unseren Mitmenschen einfordern. Und wir sind es ja auch gewohnt: Gehen wir zum Arzt, freuen wir uns über Blutwerte im Normalbereich, bei auftretenden Motorengeräuschen beruhigt uns die Diagnose vom Mechaniker, dass diese vollkommen normal sind.

Doch was ist eigentlich „normal“? Per Definition wird darunter verstanden, vorhandenen (z. B. wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen) Normen, oder auch über längere Zeiträume ähnlich ablaufenden Ereignissen zu entsprechen. Quasi gewöhnlich, aber ehrlich gesagt klingt das gar nicht so besonders erstrebenswert. So wird, wer sich durch ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen auszeichnet, als Spießer abgewertet. Und unsere Kinder ermutigen wir sogar im Gegenteil, nicht dieselben, von anderen vorgegeben Wege zu gehen, sondern ihre eigenen Spuren auf der Welt zu hinterlassen.

Scheinbar gibt es da also eine gewisse Widersprüchlichkeit mit der Einstellung zur Normalität. Ich denke, ein gewisses Maß davon ist in unserem Leben nicht falsch, sie kann uns im Alltag Orientierung und Sicherheit geben. Einige Normen sind für unser gesellschaftliches Zusammenleben wichtig und für ein freies Leben in einer Demokratie sogar unverzichtbar. Abgesehen von diesen existentiellen Regeln darf aber nicht unser persönliches Verständnis von Normalität, unsere individuelle Wertvorstellung der Maßstab sein, mit dem wir über das Leben oder das Handeln anderer urteilen.

Die Bibel (1.Korinther 12,19-21) stellt im Vergleich zu den verschiedenen Aufgaben und Lebenssituationen jedes Einzelnen die Frage, was für ein sonderbarer Leib das wäre, der nur ein Körperteil hätte. Die Antwort ist, dass dies (zum Glück) nicht so ist, sondern viele unterschiedliche Teile gemeinsam den einen, vollständigen Leib bilden. Vor allem der darauffolgende Vers „Darum kann das Auge nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht! Und der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ihr seid überflüssig!“ sollte uns ermutigen, nicht die eigenen Vorstellungen und Normen als allgemeingültig anzusehen.

Ich wünsche uns, immer eine gewisse Offenheit für die Lebenswirklichkeit und Erfahrungen unserer Mitmenschen beizubehalten und ihnen zuzugestehen, ihre eigenen – vielleicht unnormalen – Wege zu gehen. Wer weiß, wo sie hinführen werden. Und wenn uns das nächste Mal ein „Das ist doch nicht normal!“ auf der Zunge liegt, vielleicht erinnern wir uns daran und stellen uns selbst die Frage: „…möglicherweise ist es das (für mich) nicht, aber muss es das denn wirklich sein?“